Rede anlässlich der Gedenkfeier am 22. Juni 2019 auf dem Internationalen Friedhof

Lieber Freundinnen und Freunde,

die Nacht von 21. auf den 22. Juni ist die kürzeste Nacht des Jahres. 1941 war der junge Igor Iwanowski in dieser Nacht mit seiner Freundin Janinka in Grodno unterwegs. Sie waren, am frühen Morgen, auf dem Weg zu Janinkas Elternhaus „als plötzlich ein seltsames, fremdes, zunächst leises, dann schnell anschwellendes Geräusch die nächtliche Ruhe der Stadt störte. Janinka blieb stehen.
„Was ist das? Was brummt da? Sind das Flugzeuge?“
Natürlich, Flugzeuge näherten sich. Ihm (Igor Iwanoski) wollte nicht in den Kopf, dass so unsinnig und zur Unzeit jenes Schreckliche begann, das die Menschen in den letzten Wochen als düstere Vorahnung geängstigt und bedrückt hatte. Er hatte sich an eine schwache Hoffnung geklammert, das Angstgefühl in sich verdrängt und sich leidenschaftlich gewünscht, dieses Schreckliche möge vorübergehen. Jetzt schien es wahr zu werden.
Janinka stürzte entsetzt und schutzsuchend zu ihm, und er hatte sie gerade mit kalten Händen umarmt, als mächtige Detonationen ganz in der Nähe sie in die Stengel des Kartoffelkrauts warfen. Eine Reihe feurig-schwarzer Pilze erhellte den Morgen, mächtige heiße Wellen schlugen ihnen in den Rücken, schleuderten Erde auf sie.
Er wartete, bis das erste dröhnende Krachen vorüber war, und sprang auf…
Betäubt von der Detonation, konnte er erst gar nicht verstehen, was sie ihm mit seltsam dünner Stimme zurief: „Lauf zur Brücke!…“ Natürlich, er mußte über die Brücke zum Stab, er wußte nun, was geschehen war, und konnte nicht anders handeln.
Ohne sich weiter umzuschauen, vorwärts gestoßen von den Schlägen der Detonation, stürzend und wieder aufspringend, eilte er zur Brücke… Er trug das gerade noch erhaschte Bild des Mädchens mit sich, wie sie erschrocken … mitten im betauten, blühenden Kartoffelkraut zurückblieb.“
Quelle: Wassil Bykau, Romane und Novellen, Band 2, Pahl-Rugenstein, 1985, Köln, Seite 405 f.

Die jungen Leute sehen sich nicht wieder, Igor Iwanowski fällt wenige Monate später.
Igor Iwanowski ist eine literarische Figur, erdacht von dem weissrussischen Schriftsteller Wassil Bykau.

Alexander Gribzow aber ist keine literarische Figur. Er war ein Mensch aus Fleisch und Blut. Er war verheiratet und kam aus dem Rjasaner Gebiet 200 km südöstlich von Moskau.
https://obd-memorial.ru/html/info.htm?id=300704679
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Er war 33 Jahre als er am 10. Oktober 1941 in Wjasma, 250 km westlich von Moskau, von der Wehrmacht gefangenen genommen wurde.
Mitte November wurde er im Stalag VI C, Bathorn, registriert. Trotz der Strapazen auf der Reise war er gesund.
Das Stalag VI C gehörte zu den Emslandlagern. Es wurde 1938 als Strafgefangenenlager  errichtet. Gleich nach Kriegsbeginn, im September 1939, übernahm die Wehrmacht das Lager. Das Wehrkreiskommando VI in Münster richtete in Bathorn, nach dem Stalag VI A in Hemer und VI B in Versen, sein drittes Mannschaftsstammlager (Stalag) VI C ein. Die Emslandlager Groß Hesepe, Dalum, Wietmarschen und Alexisdorf wurden dem Stalag in Bathorn als Zweiglager unterstellt.
Am 18.11. kam Alexander Gribzow ins Lager Dalum und am 8.12. wurde er in das Lager Alexisdorf gebracht.

Ein Zeitzeuge aus der Region erinnert sich „an ein russisches Arbeitskommando, das konnten wohl ein paar hundert Mann gewesen sein, die marschierten von Alexisdorf zu Fuß in Richtung Hoogsteede. Draußen herrschte der Winter, es hatte gerade geschneit, da musste der Großteil der russischen Männer barfuß im Schnee zur Arbeit laufen… Bekleidet waren sie lediglich mit ihrem leichten Drillichanzug, Tuchanzug. (…) Viele russische Gefangene sind in Alexisdorf elendig zugrunde gegangen, weil sie kaum etwas anzuziehen hatten, die Verpflegung schlecht und unzureichend war und weil sie zudem körperlich hart arbeiten mussten. Natürlich wurden unter diesen Umständen viele krank (Lungen-TB, Kreislaufschwächen,  Diphtherie). Da die Verpflegung im Lazarett nicht besser wurde, sind viele einfach verhungert.“
Quelle: https://www.diz-emslandlager.de/lager/lager15.htm
Aufgerufen 23.6.2019

Alexander Gribzow lebte noch und kam am 8. Mai 1942 nach Ochtrup in das Arbeitskommando 628, das sich vermutlich in der Weberei Laurenz befand.
Am 15. Juli wurde er in das Stalag VI D nach Dortmund gebracht, wahrscheinlich war er da bereits krank. Am 30. August 1942 starb er im Stalag VI D. Die Wehrmacht teilte der Stadt Dortmund seinen Namen nicht mit und er wurde als Unbekannter auf dem Hauptfriedhof begraben.

Gedenken an Alexander Gribzow

Insgesamt gerieten etwa 5,5 Mio Soldaten der Roten Armee in deutsche Kriegsgefangenen, etwa 3 Mio Rotarmisten überlebten die deutsche Kriegsgefangenschaft nicht. Der Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen ist das größte Verbrechen der Wehrmacht.
Dieses Verbrechen ist bis heute nicht völlig aufgearbeitet. Obwohl es inzwischen zahlreiche Untersuchungen gibt, liegt noch vieles im Dunkel und schlimmer noch, oft beruhen unsere Sichtweisen bis heute auf Dokumenten aus der Nazizeit und auf Narrativen die Wehrmachtsgenerälen, wie z.B. Gotthard Heinrici, in der Nachkriegszeit geschaffen haben.
siehe dazu: Johannes Hürter (Hrsg.) Notizen aus dem Vernichtungskrieg, Die Ostfront 1941/42 in den Aufzeichnungen des Generals Heinrici, WGB, Darmstadt, 2016, Seite 21

Doch die Dokumente aus der Nazizeit und unsere Sichtweise auf diese Dokumente bedürfen einer kritischen Überprüfung. Denn geben sie nicht die Verfahrensweisen und das Verwaltungshandeln der Nazis wieder? 78 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion und mehr als 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs stehen für Nachforschungen zahlreiche Archive zur Verfügung, in denen eine sehr große Zahl von Dokumenten lagert.
Über 3 Mio. Dokumente von Verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen im Gesamtarchiv des Verteidigungsministeriums der Russische Föderation (Общая База Данных – Мемориал, OBD-Memorial) im Podolsk bei Moskau zeigen heute das Ausmaß der Verbrechen der Wehrmacht. Die Dokumente sind für Interessierte auf der Internetseite von „OBD-Memorial“ www.obd-memorial.ru zu sehen und sie ermöglichen heute neue Erkenntnisse durch Informationen, die nach dem Krieg nicht zugänglich waren.
Erlaubt mir zum Schluss noch eine Bemerkung zur Geschichtsarbeit in Dortmund. In Dortmund ist viel getan worden, um die Erinnerung an die Opfer des Hitlerfaschismus und an den Widerstand gegen das verbrecherische Naziregime wachzuhalten, dennoch liegt noch Vieles im Dunkeln. Das gilt ganz besonders für die tausenden sowjetischen Kriegsgefangenen, die in Dortmund gearbeitet haben und gestorben sind. 4 Jahre lang, vom Herbst 1941 bis Anfang 1945, fuhren beinahe täglich Leichenwagen von der Westfalenhalle zum Hauptfriedhof. Sie brachten die Verstorbenen aus dem Stalag hierher und hier wurden sie anonym begraben.
Ich sage es mit den Worten unseres Oberbürgermeisters, der Karfreitag in der Bittermark Brecht mit den Worten zitierte: „ Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn keiner mehr an ihn denkt“. Nehmen wir die Aufforderung ernst und sorgen wir dafür, dass das Leben und Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen in den zahlreich Arbeitskommandos und das Sterben im Stalag in Erinnerung bleiben und die Verstorbenen nicht Unbekannte bleiben, sondern eine würdige Ruhestätte hier auf dem Internationalen Friedhof finden.

Hannelore Tölke

Personalkarte

Jeder Kriegsgefangene hatte eine Personalkarte mit alle persönlichen Daten. Sie begleitete den Kriegsgefangenen durch die Lager, jede Personalkarte eröffnet für uns das tragische Schicksal eines Kriegsopfers. In der Personalkarte 1 wurden folgende Informationen eingetragen:
der Name,
der Vorname und der Vatername,
das Geburtsdatum und der Geburtsort ,
der Name der Mutter, um jüdische Wurzeln zu finden, die Staatsangehörigkeit,
alle beruflichen und militärische Daten,
wann und wo in Kriegsgefangenschaft geraten,
der Gesundheitszustand ein Foto (nicht immer) und die Fingerabdrücke.

Die zweite Seite hatte Information über Gefängnisaufenthalte, die medizinische Behandlung, den Weg durch die Wehrmachtkreise und die Lager, Arbeitseinsätze in verschiedenen Betrieben (Arbeitskommando).

Die „Personalkarte 1“ wurde bei der Registrierung oft von Hilfspersonal aus verschiedensten Ländern ausgefüllt. Die Eintragung der Daten erfolgte dabei sehr häufig nach Gehör. Nach einem langen Weg bis ins Lager waren die Menschen ausgehungert, erschöpft und oft so geschwächt, dass sie bei der Registrierung dem Hilfspersonal, das ihre Daten aufgenommen hat auch wegen der Verständigungsschwierigkeiten keine genaueren Erklärungen zur Person geben konnten. Dadurch kam es beim Ausfüllen der Personalkarten häufig zu Fehlern. Diese Fehler haben die Gefangenen auf ihrem Weg durch die Lager und, wenn sie dort verstorben sind, bis zu ihrem Tot und noch darüber hinaus begleitet.

Personalkarte 1