Leben und Sterben der sowjetischen Gestapo-Opfer

Wer sind die Ermordeten der Bittermark?

Im Stadtarchiv der Stadt Dortmund geben zahlreiche Dokumente Zeugnis von der grausamen Arbeit der Gestapo. Auch in den letzten Kriegstagen wurden Verhaftungen akribisch vermerkt. Die Dokumente über die Gestapo-Haft sowjetischer Bürger*innen enthalten für diese Zeit 117 Einträge. Hinter den Namen dieser Verhafteten findet sich oft der Vermerk „entlassen“. Anders als der Begriff „entlassen“ vermuten lässt, haben diese Gefangenen ein grausames Schicksal, denn die Eintragung „entlassen“ war ein Todesurteil für die Gefangenen. So gehen wir davon aus, dass unter den 117 Menschen auf der Liste der Gestapo, 98 Gefangene, hinter deren Namen den Vermerk „entlassen“ steht, die letzte Tage des Krieges nicht überlebten.

Nur wenige haben überlebt

Nur wenige Gefangene haben die Gestapo-Haft und die letzte Tage des Krieges überlebt. Für einigen Menschen haben wir jetzt persönliche Dokumenten in verschiedenen Archiven gefunden.

Pawel Wasiljewitsch Philipin

Auf der oben genannten Gestapo-Liste ist Paul Pilipin, geboren 1911, unter der Nr. 8554 eingetragen. Er war am 2.4.1945 in Gestapo-Haft. Nach eingehender Recherche konnten wir in der Datenbank OBD-Memorial (https://obd-memorial.ru/html/) unter der ID 79919315 einen Eintrag für Philipin (Filipin), Pawel Wasiljewitsch finden. Wir gehen davon aus, dass es sich um den in der Liste genannten Paul Pilipin handelt, denn nach unserer Erfahrung wurden Namen von sowjetischen Bürger*innen bei der Registrierung sehr oft fehlerhaft aufgenommen. Darüber hinaus differiert die Schreibung von Namen in lateinischer, deutscher und kyrillischer Schrift.

Informationen aus dem Archiv
ID
79919315

Familienname
Philipin (Filipin)
Vorname
Pawel
Vatername
Wasiljewitsch
Geburtsdatum
1911
Geburtsort
Rjsaner Gebiet, Dorf Nikoljskoe
Datum und Ort der Mobilisierung
1941
Letzter Dienstort
Einheit 904. Infanterie Regiment
DienstgradRotarmist
Grund des Verlustes
in Gefangenschaft geraten (befreit)
Datum des Verlust
20.08.1941

Der Eintrag in der Datenbank OBD-Memorial besagt, dass Pawel Wasiljewitsch Philipin bereits im August 1941 in Gefangenschaft geriet und am Ende des Krieges befreit wurde. Er hatte also eine lange Gefangenschaft hinter sich. Darüber geben zwei Transportkarten Auskunft:
OBD Memorial, ID 1978125561
Transportkarte Filipin, Pavel zum Stalag XIII A Sulzbach Rosenberg (Bayern)

OBD Memorial, ID-Nr. 1978107752
Transportkarte Filipin, Pavel vom Stalag XIII A Sulzbach Rosenberg (Bayern) zum Stalag XIII D zum Stalag XIII A Nürnberg-Langwasser

Es ist anzunehmen, dass Pawel Philipin nach Dortmund kam, da sehr viele sowjetische Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit in die Betriebe und Zechen des Ruhrgebiets gebracht wurden.

Pjotr Iwanowitsch Powarow

Auch Pjotr Powarow (Peter Powarow) geriet in Gestapo-Haft und wurde unter der Nr. 10020 registriert, auch er wurde nach dem Ende des Krieges befreit.

Informationen aus dem Archiv
ID 85494462


Familienname
Powarow
Vorname
Pjotr
Vatername
Iwanowitsch
Geburtsdatum
1918
Geburtsort
Smolensk, Degtjarowa 2
Datum und Ort der Mobilisierung
09.05.1934, Waisenhaus, Stadt Smolensk
Dienstrang
Unterleutnant
Grund für den VerlustIn Gefangenschaft geraten (befreit)
Datum des Verlust
27.10.1941
Quelle
ZAMO

Seine Filtrationskarte besagt: Der Unterleutnant Pjotr Iwanowitsch Powarow geriet leichtverwundet am 27.10.1941 in Kriegsgefangenschaft. Am 13.04.1945 befreiten ihn die Amerikaner in Dortmund. Bis November 1946 wurde er in verschiedenen Filtrationslagern überprüft. Danach arbeitete er bei einem Moskauer Bauunternehmen.

Filtrationskarte von Pjotr Iwanowitsch Poworow

Der Vermerk „entlassen“ war ein Todesurteil

Ganz anders aber waren die Schicksale der 98 sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilisten*innen, deren Gestapo-Akten den Vermerk „entlassen“ tragen. Von keiner dieser Personen finden sich Dokumente über ihre Befreiung und ihre Rückkehr nach Hause.

Anwer Hassanowitsch Issajew

Einer dieser 98 Gefangenen ist An(u)wer Issajew, registriert unter der unter Nummer 8649 in den Gestapo-Akten.
Seine Familie erhielt von ihm im November 1941 das letzte Lebenszeichen.

Informationen aus dem Archiv
ID 70276022

Familienname
Isaew
Vorname
Anwar
Vatername
Hasanowitsch
Geburtsdatum
1920
Geburtsort
ASSR Mordowien, Dorf Atenino
Datum und Ort der Mobilisierung
13.02,1941 ,Kirgisische SSR, Gebiet Osch
Dienstgrad
Rotarmist
Grund für den Verlustvermisst
Datum des Verlust
12.1941
Quelle
ZAMO

Iwan Petrowitsch Haew

Über den unter der Nummer 8666 eingetragenen Iwan Haew gibt es Informationen in der Datenbank OBD-Memorial. Iwan Petrowitsch Haew war seit dem 20.6.1940 Soldat, sein letzter Dienstort war Belostock ganz im Westen der Sowjetunion. Ab Ende Juni 1941 hatte seine Familie keine Nachricht mehr von ihm.

Informationen über Kriegsgefangenen
ID 72230514

Name
Haew
Vorname
Iwan
Geburtsdatum
04.08.1914
Lager
Stalag (Lager in dem der Gefangene
registriert wurde)
IV B
Erkennungsmarken-Nr.
123059
Dienstrang
Rotarmist
Quelle
ZAMO

Im September 1941 wurde er im Stalag IV B Mühlberg/Elbe registriert und erhielt die Erkennungsmarken-Nr. 123059. Einige Arbeitseinsätze und Lagern überlebte er.

Er wurde mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zur Zwangsarbeit ins Ruhrgebiet gebracht. Sein letztes Lebenszeichen war die Eintragung der Dortmunder Gestapo „entlassen“. Der Vermerk war sein Todesurteil. Er kam nicht nach Hause.

Trofim Efimowitsch Litwin

Trofim Efimowitsch Litwin war seit 1939 Soldat in einer Einheit der Roten Armee in der Stadt Belzy. Seit November 1941 hatte seine Familie kein Lebenszeichen von ihm.

Auch Trofim Litwin geriet in Gestapo-Haft und wurde unter der Nr. 8677 registriert. In den Gestapo-Akten steht neben seinem Namen unter dem 1.4.1945 der Vermerk „4K entlassen“.

Informationen aus Dokumenten zur Klärung von Verlusten
ID 70120548

Familienname
Litwin
Vorname
Trofim
Vatername
Efimowitsch
Geburtsdatum
1917
Geburtsort
Ukrainische SSR, Gebiet Poltawa, Dorf Komarowka
Datum und Ort der Mobilisierung
10. 1939, Ukrainische SSR, Stadt Poltawa,
letzter Dienstort
P/Ja 35-10
Dienstgrad
Rotarmist
Grund für den Verlust
vermisst
Datum des Verlust
12.1943
Quelle ZAMO

Ebenso wie die Familien in Deutschland und Frankreich Nachforschung nach ihren Angehörigen anstellten, die in der Bittermark ermordet wurden, suchten auch die Familien in der Sowjetunion nach ihren ermordeten Angehörigen. Diese Nachforschungen waren in der Nachkriegszeit sehr schwierig.
Inzwischen wurde viele Archiven geöffnet, die in der Nachkriegszeit nicht zugänglich waren. Welche Informationen und Dokumente lassen sich dort noch über die 98 aus Gestapo-Haft „Entlassenen“ finden?

Gedenken an die Opfer der Bittermarkmorde

Kurz vor dem Ende des Krieges, im Frühjahr 1945, ermordete die Gestapo in der Bittermark und im Rombergpark mehrere hundert Menschen, die genaue Zahl ist nicht bekannt. Eine Liste mit den Opfern der Bittermark enthält 114 Namen, darunter auch einige ausländische Häftlinge, von denen angenommen wird, dass sie in den letzten Kriegstagen in Dortmund ermordet wurden. Als Quellen wird das Buch von Lore Junge „Mit Stacheldraht gefesselt“ angegeben.

Lore Junge gibt in ihrem Buch insbesondere die Biographien der deutschen Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen wieder. Dafür hat sie mit Angehörigen der Ermordeten gesprochen und Akten durchgesehen. Ihrer Arbeit und ihren Recherchen ist es zu danken, dass wir viel über das Leben und die politische Arbeit der ermordeten Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen wissen sowie über ihre Zeit in Haft und die Suche nach den Ermordeten in den Tagen und Wochen nach dem Bekanntwerden der Verbrechen in der Bittermark. Bei ihren Recherchen beruft sich Lore Junge unter anderem auch auf Dokumente der Gestapo und auf den Prozess, der 1952 gegen einige Täter stattfand.

Für die ausländischen Ermordeten der Bittermark ist die Recherche jedoch sehr schwierig. Berichte von Angehörigen liegen in den allermeisten Fällen nicht vor. Die Dokumentenlage über die Verbrechen der Gestapo in den letzten Kriegstage ist lückenhaft. Dennoch liegen dem Stadtarchiv Dortmund Dokumente vor. So sind in Papieren Gestapo unter dem 2. April 1945 zahlreiche Personen mit dem Vermerk „2.04.1945 entlassen“ geführt. Dort finden sich auch die Namen Albert Meyers, Cornelius Bothof und Peter Drapohovich aus der obengenannten Liste.

Nr. in der OpferlisteNationalitätNameLetzte MeldungEintragung Gestapo
73FranzoseMeyers, Albert02.04.1945entlassen
12HolländerBothof, Cornelius02.04.1945entlassen
32JugoslaveDrapohovic, Peter02.04.1945entlassen

Schauen wir die Gestapo-Akten von sowjetischen Bürgerinnen und Bürgern an, finden wir am gleichem Tag zahlreiche Eintragungen mit dem Vermerk „Gestapo abgeholt“ oder „durch Gestapo entlassen“. So wurden am 2.4.1945 gem. Gestapo-Akten 13 sowjetische Gefangene „entlassen“. Wir müssen davon ausgehen, dass sie ermordet wurden.

Diese Menschen, die vielleicht in der selben Zelle saßen wie die drei obengenannten Gefangenen, werden bis heute nicht zu den Ermordeten der Bittermark gezählt.

Nr. im Aktenbestand 167/1-137NationalitätNameletzte MeldungEintragung Gestapo
7316SowjetbürgerOrlow, Wasili02.04.1945Gestapo abgeholt
8514SowjetbürgerPodoljan, Grigori02.04.1945durch Gestapo entlassen
8572SowjetbürgerSchilow, Feodor02.04.1945durch Gestapo entlassen
8584SowjetbürgerJanik, Wladislaw02.04.1945durch Gestapo entlassen
8609SowjetbürgerSoschenko, Viktor02.04.1945durch Gestapo entlassen
8618SowjetbürgerNadjuk, Paul (Pawel)02.04.1945durch Gestapo entlassen
8621SowjetbürgerWenigrora, Eugen(ij)02.04.1945Gestapo abgeholt
8622SowjetbürgerWoronow, Viktor02.04.1945durch Gestapo entlassen
8623SowjetbürgerVolik, Nikolai02.04.1945durch Gestapo entlassen
8630Sowjetbürger-inGutnik, Galina02.04.1945durch Gestapo entlassen
10004SowjetbürgerDzjura, Nikolai02.04.1945durch Gestapo entlassen
10029SowjetbürgerNimenko, Wasili02.04.1945durch Gestapo entlassen
8569SowjetbürgerMaczkowski, Viktor02.04.1945durch Gestapo entlassen