Vor einiger Zeit besuchte ich in der Gedenkstätte Stalag 326 einen Fotoworkshop. Wir wollten Eindrücke vom ehemaligen Kriegsgefangenenlager in der Senne gewinnen, dazu haben wir die letzten erhalten Gebäuden auf dem ehemaligen Lagergelände und Erinnerungsorte in der Umgebung fotographische festgehalten. So suchte ich auch den Bahnhof Hövelhof auf und ging ein Stück auf dem Russenpad.
Im Sommer 1941 und in den Jahren bis zum Ende des 2. Weltkriegs kamen mehrere hunderttausend zumeist sowjetische Kriegsgefangene in das Kriegsgefangenenlager Stalag 326. Erschöpft nach einer tagelangen Fahrt, hungrig und durstig, erreichten die Gefangenen den Bahnhof des Städtchens Hövelhof. Die Männer hatten in überfüllten Waggons, oft ohne Nahrung und Wasser, eine Weg vom 1500 km und mehr aus den Frontlagern in den besetzten Gebieten in Polen und der Sowjetunion hinter sich. In den Frontlagern wurden sie hinter Stacheldraht gefangen gehalten. Die Gefangenen starben vor Hunger, an Verwundungen und Krankheiten. Verletzte und Kranke versorgte man nicht. Gesunde und junge Gefangene wurden mit Güterzügen nach Deutschland zur Zwangsarbeit abtransportiert, so auch in die ostwestfälische Senne. Nach ihrer Ankunft in Hövelhof wurden sie über den sog. Russenpad in das 5 Kilometer entfernte Lager gebracht und von dort zur Zwangsarbeit ins Ruhrgebiet.
Einer der Männer war Pjotr Terentjewitsch Jankowskij. Er berichtet über seinen ersten Tag im Lager Stukenbrock, wie er am Bahnhof in Hövelhof ankommt, auf dem Russenpad ins Lager geht und was im Lager mit den Gefangenen geschieht.
„Neben den Waggons war Gestampfe und deutsches Sprechen zu hören. Sie öffneten die Türen der Waggons. In unsere Wagen strömte kühle Luft mit einem unangenehmen Brandgeruch. Uns wurde übel. Dann kam das Kommando zum Ausladen. Unser Transport war in einem dichten Kreis umringt von deutschen Soldaten, die an Leinen Schäferhunde hielten. Es sah aus, als würden die größten Verbrecher aus den Waggons entladen und nicht wir die Kriegsgefangenen. Auf dem Vorplatz erschienen zusammen mit den Deutschen auch die russischen* Lagerpolizisten in Uniform, die für uns Verräter waren. An der erregenden, nervenzerreißenden Situation konnte man merken, daß uns eine große Unannehmlichkeit bevorstand.“
Bahnhof Hövelhof
„Alles ringsherum war grau, öde, nur Sand und irgendwelche kümmerliche Pflanzen. Grau und finster allein schon die Pfähle, die mit Reihen von Stacheldraht umwickelt waren…“
„Wir holten die Toten und Kranken aus den Waggons und legten sie auf den Platz gegenüber. Während des Ausladens verkleideten wir eilig den Schlitz im Boden unseres Waggons, durch den junge Gefangene auf dem Weg von Winniza* nach Polen geflüchtet waren.“ …
*gemeint ist das Stalag 329 Winnyzja/Ukraine
„Nachdem wir uns in einer Kolonne zu fünf Personen in einer Reihe aufgestellt hatten, kamen wir unter das Kommando eines rothaarigen Lagerpolizisten. Unterdessen waren für die Toten Fuhrwerke zum Bahnhof gekommen. Die Soldaten und die Polizisten vom Lagerschutz warfen die Leichen und auch die Kranken wie Holzstücke auf die Wagen. Sie hoben sogar diejenigen mit auf die Fuhrwerke, die hinter der Kolonne aus Schwäche zurückgeblieben waren. Die Gefangenen blieben stehen, alle erstarrten gleichsam; es gab eine allgemeine Verwirrung. Einige, die dieses unmenschliche Vorgehen nicht mit ansehen konnten, fingen hysterisch an zu schreien. „Warum steht ihr hier? Vorwärts, vorwärts!“ schrie der rothaarige Polizist. Aber die Kolonne bewegte sich nicht von der Stelle, sie stand wie versteinert. Sofort warfen sich die Soldaten auf die Kolonne und ergriffen alle, die geschrien hatten, um sie mit auf den Kastenwagen zu werfen. „Vorwärts, sage ich, vorwärts“, schrie der Rothaarige. „Wenn ihr euch nicht vorwärts bewegt, wird das deutsche Kommando euch alle vernichten, wie Rebellen!“ Und die Soldaten der Bewachung begannen, die Kolonne mit den Gewehrkolben vorwärtszustoßen.“…
in der Übersetzung des Textes wird offensichtlich der Begriff „russisch“ benutzt wenn „sowjetisch“ gemeint ist, hier handelt es sich wohl um sowjetische Kriegsgefangene, die als Hilfspolizisten im Stalag arbeiteten
Eindrücke vom sog. Russenpad
„Wir hielten endlich auf dem Lagerplatz an.“…„Überall sah man Stacheldraht, dieses Symbol der faschistischen „neuen Ordnung“. Entlang dem Drahtzaun befanden sich Türme, die mit Maschinengewehren und Scheinwerfern bestückt waren. Auf den Türmen standen Wachposten mit Stahlhelmen und in mausgrauen Uniformen. Das waren die Wachen der „neuen Ordnung“. Hinter dem Zaun niedrige Holzplattenbaracken, je drei Baracken in einem Abteil. Zwischen den Abteilen erneut Draht, soweit das Auge reichte. Dieser Art war der erste Eindruck vom Lager Stuckenbrock, diesem faschistischen Todeslager, wo Tausende Angehörige der Roten Armee und Soldaten aus anderen Ländern Europas in der Gefangenschaft gehalten wurden.“…
…Auf dem Appellplatz fragte der Lagerkommandant sich an die Kolonne wendend: „hat jemand Fragen?“ … Aus den Reihen den Gefangenen ertönte eine Stimme: „Herr Kommandant, wir sind Gefangene, aber wir werden nicht behandelt wie Gefangene“. …. Es trat ein Man zwischen 40 und 45 Jahren vor. Auf seine Schultern hing leere Tasche aus hausgewebter Leinwand. „Ich habe einen Passierschein.“ Der Faschist beachtete das Papier nicht. Er schrie: „Weg, weg!“ Und mit alle Kraft trat er den Gefangenen mit dem Fuss in den Bauch“…. „Das Papier, das der Gefangenen fallenlassen hatte, als die Polizisten ihm abführten, lag auf dem Boden“….„Ich werde dieses Papier suchen und es aufheben, entschloss ich mich. Nach dem Weggehen der Deutschen verteilten wir uns auf dem Platz und ich fand es bald. Wir lasen es laut vor. Der Inhalt war ungefähr folgender: Das deutsche Kommando schlug russische* Soldaten vor, sich zu ergeben und in Gefangenschaft zu gehen. Alle Gefangenen versprach es die Sicherheit für ihr Leben, gute Behandlung und ausreiche Ernährung. Niemand sagte zu dem Inhalt dieses Schreibens etwas; alle hörten schweigend zu“.
**gemeint sind sowjetische Kriegsgefangene
„Die Pause dauerte nicht lange. Die Lagerpolizisten kommandierten: „Antreten in Fünferreihen!“ Sie zählten nach und teilten für je zehn Leute eine Person zum Essenempfang ein. Die Ausgezählten gingen um das Essen zu holen. Mittagessen ist in den Kriegsgefangenenlagern ein relativer Begriff. Das, was die Faschisten für unsere Kriegsgefangenen zubereiteten, war besonders für uns Neuankömmlinge eine Zumutung. Die Mängelernährung in den Lagern war eines der Elemente der physischen Vernichtung von Sowjetbürgern. Das war klar ersichtlich an diesem „Mittagessen“, das sie aus der Lagerküche brachten. Diese „Balanda“ (Wassersuppe) war unmöglich zu essen. Sie wurde zubereitet aus eingesäuerter, verfaulter Steckrüben- und Futtermasse. Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen, das während einer Hungersnot um seine Existenz fürchtet und sich zwingen kann, das zu essen, was kein Tier zu sich nehmen würde. Aber diese Balanda konnte niemand essen. Nur das „Brot“ wurde aufgegessen. Es war aus getrockneten Zuckerrübenschnitzeln unter Zusatz von Holzspänen gebacken worden.“…
Erhaltene Verbotsinschriften in der Entlausung im Text „Lagerbad“
„An der Grenze der menschlichen Kraft, ermüdet, hungrig, ausgezehrt vom langen Unterwegssein …, führten sie uns nun noch in das Lagerbad zur sanitären Behandlung. Vor dem Eingang in das Bad ließen sie uns in Reih und Glied antreten und ein deutscher Soldat erklärte uns die Ordnung für den Durchlauf.“…
Innenansicht aus der Entlausung
Die Köpfe schoren sie uns kahl. Die Haare an den übrigen Köperteilen sollten wir uns selbst abrasieren. Im Auskleideraum nahmen uns Kriegsgefangene unsere Kleidungsstücke ab. Danach gaben sie uns auf Befehl eines Deutschen Rasiermesser, die stumpf waren. Wie sollte man es wohl schaffen mit solchen stumpfen Rasiermessern am eigenen Körper, wo nur Haut und Knochen waren, die Haare abzurasieren? Und dazu kam noch, daß von Hunger, von der ungeheuren Müdigkeit und von der starken nervlichen Anspannung die Hände zitterten und nichts halten konnten. Bald kamen zu uns zwei Arbeiter des Bades: „Los, Kinder, rasieren solange der Deutsche nicht da ist! Wir machen auch die Messer ein bißchen schärfer; wir ziehen sie ab!“ Als sie zurückkamen, begannen sie selbst, uns am Körper die Haare abzurasieren.“
Die hier veröffentlichten Auszüge des Augenberichts „Der erste Tag des Aufenthaltes im Lager Stukenbrock – Aus den Aufzeichnungen des ehemaligen Gefangenen P.T. Jankowskij“ ist dem Buch „Das Lager 326 – Augenzeugenberichte, Fotos, Dokumente“, entnommen. Herausgeber ist der Arbeitskreis Blumen für Stukenbrock e.V., Porta Westfalica, 1988, die Rechtschreibung im Text wurde beibehalten