Im Jahr 2020 – in Dortmund Erinnerungsorte für die Opfer der Naziherrschaft schaffen

Das Jahresende ist eine Zeit der Rückschau auf das vergangenen Jahr. So blicken wir zurück und fragen, was sich in Puncto Erinnerungsorte in Dortmund im Jahr 2019 bewegt hat. Der Gedenkstein an der Westfalenhalle wurde wieder aufgestellt. Das freut uns. Er soll an das Stalag VI D erinnern und an die vielen tausend Kriegsgefangenen, die von 1939 bis Anfang 1945 in der Westfalenhalle und in einen Lager auf dem heutigen Messegelände waren. Eine Gedenkstätte auf dem Messegelände für die Menschen, die im Stalag VI D gelitten haben und gestorben sind, fehlt bisher. Die Stadt Dortmund ebenso wie die Westfalenhallen GmbH zeigen leider bisher wenig Interesse an einer solchen Gedenkstätte. Wir fragen uns warum.

Aus dem Lager wurden viele tausend Kriegsgefangene an Betriebe in Dortmund und Umgebung vermittelt. Allein die Belegschaft bei Hoesch bestand während des Krieges zu mehr als einem Drittel aus Zwangsarbeiter*innen. An diese Menschen soll ein Denkmal auf der Kulturinsel im Phönix-See erinnern. Dies hat der Rat der Stadt Dortmund im Frühjahr 2019 beschlossen, auch das freut uns. Doch die Umsetzung dieses Beschlusses lässt auf sich warten. Auch der beschlossene Standort gibt Anlass für Fragen. Weshalb wurde für das Denkmal ein versteckter Ort hinter technischer Infrastruktur gewählt, statt es für die Bürger*innen sichtbar auf dem vorderen Teil der Kulturinsel zu platzieren, wo es auch vor Vandalismus geschützt wäre und zwischen der Thomasbirne und der Erinnerungstafel für das Stahlwerk Phoenix-Ost eine Geschichtsachse bilden würde.

Auch die Gestaltung eines weiteren Erinnerungsorts lässt nach wie vor auf sich warten. Gemeint ist die Neugestaltung des Internationalen Friedhofs am Rennweg. Dort sollten lange schon Stelen mit den Namen von mehr als 4400 sowjetischen Kriegsgefangenen, errichtet werden. Viele Kriegsgefangene, die in Betrieben in Dortmund und Umgebung Zwangsarbeit leisten mussten, wurden in das Stalag VI D zurückgeschickt, wenn sie von den Arbeits- und Lebensbedingungen entkräftet waren und krank wurden. Viele sind im Stalag gestorben und wurden auf dem Internationalen Friedhof am Rennweg gegraben. Heute erscheint dieser Friedhof wie eine Parkanlage, die Verstorbenen scheinen vergessen. Die Stelen sollen an die Verstorbenen erinnern. Aber auch die Umsetzung dieses Vorhabens, das eigentlich noch 2019 begonnen werden sollte, macht keine Fortschritte.

Müssten nicht die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung in Dortmund und der Westfalenhallen GmbH, in Zeiten sich häufender rechtsextremer Vorfälle, ein besonderes Interesse daran haben an die Verbrechen der Nazis und die Folgen der Naziherrschaft zu erinnern? Im Jahr 2020 ist der 75. Jahrestag des Endes des 2. Weltkriegs und der Befreiung vom Faschismus. Wünschenswert ist,dass die Verantwortlichen in Dortmund das Jahr 2020 für eine Aufarbeitung der Stadtgeschichte während der Nazizeit nutzen, die bereits beschlossenen Projekte umsetzen und Erinnerungsorte in Dortmund schaffen.

„Geschichtsachse“ oder „Konzertflügel im Busch“

In Russland gibt es ein geflügeltes Wort „Rojal w Kustach“, „der Konzertflügel im Gebüsch“, ein- bis zweimal im Jahr wird er für ein feierliches Konzert hervorgeholt, den Rest des Jahres ist er im Gebüsch vergessen. Es besteht die Gefahr, dass das geplante Zwangsarbeiter*innen-Denkmal, das demnächst auf der Kulturinsel im Phönix-See errichtet werden soll, ein ähnliches Schicksal erleiden könnte.

Im Frühjahr 2019 fasste der Rat der Stadt Dortmund endlich einen Beschluss: das Zwangsarbeiter*innen Denkmal soll auf der Kulturinsel im Hörder Phönix-See errichtet werden. Bis zu diesem Beschluss war es ein langer Weg. Von Dortmunder Bürger*innen wird seit vielen Jahren ein Ort gefordert, der an die Menschen, die in Dortmund Zwangsarbeit leisten mussten, erinnert. Vereine und Initiativen in Dortmund setzen sich seit Jahren für die Errichtung einer solchen Gedenkstätte ein. Immerhin gab es für ein Zwangsarbeiter*innen-Denkmal einen Wettbewerb am Fachbereich Architektur der FH Dortmund und eine glückliche Gewinnerin. Doch der prämierte Entwurf landete fürs erste in der Schublade. Nachdem die Entscheidung für die Errichtung des Denkmals gefallen war, musste die Gewinnerin des Wettbewerbs erst noch ausfindig gemacht werden, denn sie hatte inzwischen ihr Studium abgeschlossen und Dortmund verlassen. Da nun die Urheberfragen geklärt waren, hätte dem Bau des Denkmals nichts mehr im Wege gestanden. Am südlichen Ufer des Phönix-Sees wurde ein Platz gefunden, doch dann kamen Einsprüche von Anwohner*innen, die den tagtäglichen Anblick eines solchen Denkmals als Zumutung empfanden. Nach dem Ratsbeschluss im Frühjahr 2019 schließlich hätte der Errichtung des Denkmals nichts mehr im Weg gestanden, zumal auch die Finanzierung gesichert ist. Es fehlen nur noch die erforderlichen Baugrunduntersuchungen. Doch nicht nur der sich ständig verzögernde Baubeginn, sondern auch der Standort auf der Kulturinsel gibt Anlass zu Fragen und Kritik.

Geplanter Standort des Zwangsarbeiter*innen Denkmal auf der Kulturinsel. Der Pfeil zeigt den von uns vorgeschlagenen Standort

Wie zu erfahren war, soll der derzeit angedacht Standort auf Wunsch der Stadtspitze gewählt worden sein. Unglücklicherweise wird das Denkmal dort durch Bäume und Elektroverteiler verdeckt. Dieser eher abgelegene Platz auf der Kulturinsel dient den Besucher*innen heute für allerlei Zwecke. Er wird als Hundewiese genutzt, und da der Ort schlecht beleuchtet ist, wird er nachts für private Partys und anderes benutzt. Grund für die Standortwahl sei auch die Zurückgezogenheit des Ortes, doch nur sehr wenig spricht für einen solchen Standort für ein Denkmals, das an die Zwangsarbeit in Dortmund erinnern soll. Es steht dort versteckt hinter Infrastruktureinrichtungen und Bäumen und ist vom einzigen Zugang zur Kulturinsel nur eingeschränkt einsehbar. Die Rasenfläche hinter dem Denkmal könnte zukünftig verstärkt zu privaten Partys einladen und sogar das Denkmal selbst könnte Ort nächtlicher Vergnügungen werden. Die Lage birgt zudem die erhöhte Gefahr von Vandalismus. Dieser Ort ist schwerlich ein Erinnerungsort, der den Menschen das Schicksal von tausenden Zivilarbeiter*innen und Kriegsgefangenen, die in Dortmund Zwangsarbeit leisten mussten, näher bringt.

Warum erhält ein solches Denkmal keinen exponierten Platz auf der Kulturinsel? Soll es wie der „Konzertflügel im Busch“ ein oder zweimal im Jahr als Kulisse für Gedenkfeiern dienen, statt als Teil einer Geschichtsachse für die Dortmunder Bürger*innen ein sichtbarer Erinnerungsort an die bisher leider nur teilweise aufgearbeitet Geschichte der Zwangsarbeit in Dortmund zu sein. Die Belegschaften vieler Dortmunder Betriebe und Zechen bestanden während des 2. Weltkrieges zu fast 50 % aus Zwangsarbeiter*innen. Alleine Hoesch hatte nach eigenen Angaben, aus dem Jahr 1946 gegenüber der Britischen Militärverwaltung, mehr als 13 500 Arbeitskarten von sowjetischen Zwangsarbeiter*innen.

Denkmal: Zwei Brammen aus einer der letzten Hörder Schmelzen, im Hintergrund die Kulturinsel mit der Thomas-Birne


Das Denkmal auf der Kulturinsel muss zu einem Erinnerungsort werden und zusammen mit der Thomas-Birne auf der Kulturinsel und der Erinnerungstafel für das Stahlwerk Phoenix Ost am nahen Seeufer eine Geschichtsachse bilden.

Erklärung zum Volkstrauertag 2019

Nur wer sich daran erinnert, was gestern war, erkennt, was heute ist

Der Volkstrauertag ist heute ein Tag der Mahnung zu Versöhnung, Verständigung und Frieden.

Wir wollen zum Volkstrauertag an die Menschen erinnern, die während des 2. Weltkriegs in Dortmunder Betrieben, Stahlwerken und Zechen als Kriegsgefangene und Zivilarbeiter*innen Zwangsarbeit leisten mussten. Wie groß die Zahl der Menschen war, zeigt alleine schon der Umstand, dass auf den Dortmunder Zechen die Belegschaft zu fast 50 % aus Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern bestand. Besonders hart war das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen. Viele Menschen, die Zwangsarbeit leisten mussten, überlebten das nicht. Sie sind an den harten Arbeitsbedingungen und an der fehlenden Versorgung gestorben. Viele wurden auf dem Friedhof am Rennweg anonym begraben. Ihren Angehörigen ist das Schicksal der Verstorbenen oft bis heute nicht bekannt.

Der Internationale Friedhof hat heute einen parkähnlichen Charakter. Die Grabstätten, insbesondere die der Verstorben aus der Sowjetunion, die den weitaus größten Teil ausmachen, sind nicht mehr als Gräber erkennbar. Auf den Grabfeldern erinnern nur noch Obelisken allgemein an die Verstorbenen. Besucher*innen des Internationalen Friedhof können nicht erkennen, dass die Rasenflächen in Wirklichkeit Grabfelder sind. Die Verstorbenen scheinen vergessen zu sein. Durch sehr umfangreiche Recherchen ist es aber gelungen die Namen der anonym begrabenen Menschen zu ermitteln, so dass fast 4500 Namen inzwischen bekannt sind.

Ar.kod.M e.V. erinnert an sowjetische Kriegsopfer, die auf dem Internationalen Friedhof am Rennweg in Dortmund begraben sind.

Die Stadt Dortmund plant dankenswerterweise nun, gemeinsam mit den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., dem Büro für Erinnerungsarbeit der Botschaft der Russischen Föderation und der Bezirksregierung in Arnsberg, die Neugestaltung dieses Teils des Internationalen Friedhofs. Die Pläne dazu liegen seit einiger Zeit vor. Auf den Grabfeldern, auf denen Kriegsgefangene und Zivilarbeiter*innen aus der Sowjetunion beisetzt sind sollen 58 Stelen mit den Namen der Verstorbenen aufgestellt werden. Leider macht das Projekt derzeit keine erkennbaren Fortschritte, ebenso wie die Errichtung des Denkmals auf der Kulturinsel im Phönixsee, das an die Menschen, die Zwangsarbeit in Dortmund leisten mussten, erinnern soll. Der Volkstrauertag ist für uns Anlass an die Zivilarbeiter*innen und Kriegsgefangenen, die in Dortmund lebten, arbeiten und starben, zu erinnern. Wünschenswert ist deshalb für uns, dass die beiden Projekte nun zeitnah umgesetzt werden und dadurch Erinnerungsorte in Dortmund geschaffen werden, „denn nur wer sich daran erinnert, was gestern gewesen ist, erkennt auch, was heute ist und vermag zu überschauen, was morgen sein kann“. (Zitat Willi Brandt)

Reihe zwei, Zweiter von links

Mehr als 80 Jahre galt Abdul Junussow als vermisst. Seine Ehefrau hatte aus Duschanbe in Taschikistan zweimal eine Anfrage zum Verbleib ihres Mannes nach Moskau gesandt. Die Antwort lautete „ Vermisst bei Charkow “ 2017 stellte der Enkel, mit Unterstützung von Experten, Nachforschungen im Internet an. „Bereits nach einer halben Stunde hatte ich die Antwort“ berichtete er. Einer der Experten hatte Abdul Junussows Personalkarte 1 gefunden und antwortete: „Dein Großvater war als Kriegsgefangene in Westdeutschland. Er war im Stalag VI K in Stukenbrock und kam von dort ins Stalag VI A in Hemer, gestorben ist er im Kreis Unna.“ Ein Stempel auf der Personalkarte 1 besagt, dass Abdul Junussow Kriegsgefangener in Heeren-Werwe im Arbeitskommando 72 war und durch „Brustquetschung“ ums Leben kam. Wahrscheinlich hatte er einen tödlichen Arbeitsunfall unter Tage. Die Karte gibt an, dass er auf dem Evangelischen Friedhof Heeren-Werve „Reihe 2, 2. von links“begraben ist. Im Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution gibt es einen Plan des Friedhof, auf dem die Gräber verzeichnet sind.

Die Vorbereitung einer Reise nach Deutschland dauerte dann noch zwei Jahre. Mit Unterstützung des historischen Vereins „Ar.kod.M“ besuchte Abdul Junussows Enkel, zusammen seiner Frau, Anfang September das Grab seines Großvater. Er brachte eine kleine Platte mit einem Gedenkspruch mit und Erde vom Grab seiner Großmutter. Am Grab des Großvater hielt er eine kurze muslimische Trauerzeremonie ab.



Gedenken in Stukenbrock

Am 7. September fand auf dem russischen Soldatenfriedhof des ehemaligen Stalag 326 in Stukenbrock die alljährliche Mahn- und Gedenkveranstaltung statt. In einer sehr persönlichen Rede erinnerte der Schauspieler Rolf Becker an das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen. Er kritisierte die NATO und die Außenpolitik der Bundesregierung und betonte die besondere Verantwortung Deutschlands für die Erhaltung des Friedens.

In der Zeit von 1941 bis 1945 befand sich in Stukenbrock eines der größten Lager für sowjetische Kriegsgefangene. Von hier aus wurden sie zur Zwangsarbeit nach Westdeutschland, insbesondere ins Ruhrgebiet, gebracht. Viele Tausend starben jedoch bereits im Stalag 326 an Hunger, Krankheit und Vernachlässigung. Ein Obelisk, der 1945 von Überlebenden des Lagers errichtet wurde, trägt die Inschrift
„Hier ruhen die in faschistischer Gefangenschaft zu tode gequält 65000 russischen Soldaten. Ruht in Frieden Kameraden
1941-1945

Das letzte Lebenszeichen kommt aus Gelsenkirchen

Für die meisten Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, die im Krieg ihren Vater oder ihren Großvater verloren haben, ist es wichtig zu wissen, wo ihr Angehöriger bestattet ist und einen Ort des Gedenkens und der Erinnerung zu haben.

Nadeshda und ihre beiden Söhne hatten, mit Unterstützung verschiedener Organisationen in Russland, viele Jahre nach ihrem Vater und Großvater gesucht. Die Suche war sehr schwierig. Das Researche Centre in Jekaterinburg fand zwar Dokumente, wichtige Daten, wie der Vatername, der bei Namensgleichheit für die Identifizierung des Toten besonders wichtig ist, und das Geburtsdatum stimmten nicht. Da das Researche Centre keine deutschen Dokumente ausgewertet hatte, konnte die Identität nicht eindeutig bestimmt werden. Ar.kod.M erklärte sich bereit die Suche zu unterstützen, weitere Nachforschungen anzustellen und auch Dokumente deutscher Stellen auszuwerten. Schließlich wurde in Gelsenkirchen eine Personalkarte 1 mit Angaben gefunden, die zu dem Verstorbenen passten. Leider war der Ort, an dem er begraben wurde, nicht genau bezeichnet.

Die Familie entschloss sich trotzdem nach Gelsenkirchen zu fahren und den Ort, an dem ihr Vater und Großvater die letzten Monate seines Lebens verbracht hat, kennen zu lernen. Ar.kod.M hat die Familie auf dieser Reise begleitet. In Gelsenkirchen besuchte sie Friedhöfe, auf denen sowjetische Kriegsgefangenen begraben sind. Vermutlich hat Nadeshdas Vater vor seinem Tod auf einer Zeche in Gelsenkirchen gearbeitet, deshalb besuchte die Familie auch Schacht Hugo II in Gelsenkirchen-Buer.

Nach 70 Jahren – Gedenken für den verstorbenen Großvater

Vor 2 Jahren fand Igor in der Datenbank OBD-Memorial die Personalkarte 1 seines Großvaters. Die Familie hatte mehr als 70 Jahre nach dem Verstorbenen gesucht. Die Personalkarte 1 gibt Auskunft über das Schicksal von Igors Großvater Pawel Alekseewitsch Terentjew .
Er gerät bereits im Herbst 1941 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach der Registrierung im Lager 367 in Polen wird er nach Hemer in das Stalag VI A geschickt. Hunger, Kälte, das völliger Fehlen der einfachsten Versorgung und die lange Reise in offenen Güterwagen haben ihn krankgemacht. Kurz nach der Ankunft im Stalag VI A in Hemer stirb er. Beerdigt wird er auf dem Friedhof Höcklingser Weg in Hemer. Obwohl der Ort seiner Beisetzung auf der Personalkarte 1 genau vermerkt ist, lässt sich heute nicht mehr feststellen, wo genau sein Grab ist.
Der Friedhof wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten umgestaltet.

Gemeinsam mit seiner Frau besuchte Igor den Friedhof am Höcklinger Weg. Mitgebracht hatte er ein Säckchen Erde vom Grab seiner Großmutter. Igor verstreute die Erde nahe dem orthodoxen Kreuz auf dem Friedhof und nahm ein Säckchen Erde aus Hemer mit nach hause. Die Erde soll auf dem Grab seiner Großmutter verstreut werden.

Mein Herz hängt an diesem Ort

Anfang August besuchte Swetlana Kommissarova aus Moskau das oberbergische Hückeswagen. Sie kam, um das Grab ihres Großvaters zu pflegen. Vor einigen Jahren hatte sie, mit Unterstützung von Ar.kod.M e.V., das Grab ihres Großvaters Konstantin Samarin auf einem kleinen Friedhof in Hückeswagen-Vosshagen gefunden. 1941 und 1942 wurden dort vierundvierzig sowjetische Kriegsgefangene begraben. Swetlana Kommisarova setzt sich sehr für die würdige Gestaltung des Friedhofs ein. Sie sagte „Mein Herz hängt an diesem Ort.“ Außerdem hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die Angehörige der 43 Verstorbenen ausfindig zu machen.

Jugendliche aus Kasachstan besuchen den Internationalen Friedhof in Dortmund

Drei Jugendliche aus Kasachstan, die zur Zeit an der Uni Dortmund einen Kurs besuchen, haben gemeinsam mit Dmitriy Kostovarov den Internationalen Friedhof in Dortmund besucht. Wie in den meisten Familien aus der ehemaligen Sowjetunion, haben auch die Familien der Jugendlichen Angehörige im 2. Weltkrieg verloren.

Die jungen Leute interessierten sich dafür, wie viele Menschen auf dem Internationalen Friedhof begraben sind und aus welchen Ländern sie kamen. Zum Gedenken an die Opfer zündeten sie Kerzen an und legen Blumen an einem Gedenkstein nieder.

Rede anlässlich der Gedenkfeier am 22. Juni 2019 auf dem Internationalen Friedhof

Lieber Freundinnen und Freunde,

die Nacht von 21. auf den 22. Juni ist die kürzeste Nacht des Jahres. 1941 war der junge Igor Iwanowski in dieser Nacht mit seiner Freundin Janinka in Grodno unterwegs. Sie waren, am frühen Morgen, auf dem Weg zu Janinkas Elternhaus „als plötzlich ein seltsames, fremdes, zunächst leises, dann schnell anschwellendes Geräusch die nächtliche Ruhe der Stadt störte. Janinka blieb stehen.
„Was ist das? Was brummt da? Sind das Flugzeuge?“
Natürlich, Flugzeuge näherten sich. Ihm (Igor Iwanoski) wollte nicht in den Kopf, dass so unsinnig und zur Unzeit jenes Schreckliche begann, das die Menschen in den letzten Wochen als düstere Vorahnung geängstigt und bedrückt hatte. Er hatte sich an eine schwache Hoffnung geklammert, das Angstgefühl in sich verdrängt und sich leidenschaftlich gewünscht, dieses Schreckliche möge vorübergehen. Jetzt schien es wahr zu werden.
Janinka stürzte entsetzt und schutzsuchend zu ihm, und er hatte sie gerade mit kalten Händen umarmt, als mächtige Detonationen ganz in der Nähe sie in die Stengel des Kartoffelkrauts warfen. Eine Reihe feurig-schwarzer Pilze erhellte den Morgen, mächtige heiße Wellen schlugen ihnen in den Rücken, schleuderten Erde auf sie.
Er wartete, bis das erste dröhnende Krachen vorüber war, und sprang auf…
Betäubt von der Detonation, konnte er erst gar nicht verstehen, was sie ihm mit seltsam dünner Stimme zurief: „Lauf zur Brücke!…“ Natürlich, er mußte über die Brücke zum Stab, er wußte nun, was geschehen war, und konnte nicht anders handeln.
Ohne sich weiter umzuschauen, vorwärts gestoßen von den Schlägen der Detonation, stürzend und wieder aufspringend, eilte er zur Brücke… Er trug das gerade noch erhaschte Bild des Mädchens mit sich, wie sie erschrocken … mitten im betauten, blühenden Kartoffelkraut zurückblieb.“
Quelle: Wassil Bykau, Romane und Novellen, Band 2, Pahl-Rugenstein, 1985, Köln, Seite 405 f.

Die jungen Leute sehen sich nicht wieder, Igor Iwanowski fällt wenige Monate später.
Igor Iwanowski ist eine literarische Figur, erdacht von dem weissrussischen Schriftsteller Wassil Bykau.

Alexander Gribzow aber ist keine literarische Figur. Er war ein Mensch aus Fleisch und Blut. Er war verheiratet und kam aus dem Rjasaner Gebiet 200 km südöstlich von Moskau.
https://obd-memorial.ru/html/info.htm?id=300704679
Aufgerufen 23.6.2019
Er war 33 Jahre als er am 10. Oktober 1941 in Wjasma, 250 km westlich von Moskau, von der Wehrmacht gefangenen genommen wurde.
Mitte November wurde er im Stalag VI C, Bathorn, registriert. Trotz der Strapazen auf der Reise war er gesund.
Das Stalag VI C gehörte zu den Emslandlagern. Es wurde 1938 als Strafgefangenenlager  errichtet. Gleich nach Kriegsbeginn, im September 1939, übernahm die Wehrmacht das Lager. Das Wehrkreiskommando VI in Münster richtete in Bathorn, nach dem Stalag VI A in Hemer und VI B in Versen, sein drittes Mannschaftsstammlager (Stalag) VI C ein. Die Emslandlager Groß Hesepe, Dalum, Wietmarschen und Alexisdorf wurden dem Stalag in Bathorn als Zweiglager unterstellt.
Am 18.11. kam Alexander Gribzow ins Lager Dalum und am 8.12. wurde er in das Lager Alexisdorf gebracht.

Ein Zeitzeuge aus der Region erinnert sich „an ein russisches Arbeitskommando, das konnten wohl ein paar hundert Mann gewesen sein, die marschierten von Alexisdorf zu Fuß in Richtung Hoogsteede. Draußen herrschte der Winter, es hatte gerade geschneit, da musste der Großteil der russischen Männer barfuß im Schnee zur Arbeit laufen… Bekleidet waren sie lediglich mit ihrem leichten Drillichanzug, Tuchanzug. (…) Viele russische Gefangene sind in Alexisdorf elendig zugrunde gegangen, weil sie kaum etwas anzuziehen hatten, die Verpflegung schlecht und unzureichend war und weil sie zudem körperlich hart arbeiten mussten. Natürlich wurden unter diesen Umständen viele krank (Lungen-TB, Kreislaufschwächen,  Diphtherie). Da die Verpflegung im Lazarett nicht besser wurde, sind viele einfach verhungert.“
Quelle: https://www.diz-emslandlager.de/lager/lager15.htm
Aufgerufen 23.6.2019

Alexander Gribzow lebte noch und kam am 8. Mai 1942 nach Ochtrup in das Arbeitskommando 628, das sich vermutlich in der Weberei Laurenz befand.
Am 15. Juli wurde er in das Stalag VI D nach Dortmund gebracht, wahrscheinlich war er da bereits krank. Am 30. August 1942 starb er im Stalag VI D. Die Wehrmacht teilte der Stadt Dortmund seinen Namen nicht mit und er wurde als Unbekannter auf dem Hauptfriedhof begraben.

Gedenken an Alexander Gribzow

Insgesamt gerieten etwa 5,5 Mio Soldaten der Roten Armee in deutsche Kriegsgefangenen, etwa 3 Mio Rotarmisten überlebten die deutsche Kriegsgefangenschaft nicht. Der Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen ist das größte Verbrechen der Wehrmacht.
Dieses Verbrechen ist bis heute nicht völlig aufgearbeitet. Obwohl es inzwischen zahlreiche Untersuchungen gibt, liegt noch vieles im Dunkel und schlimmer noch, oft beruhen unsere Sichtweisen bis heute auf Dokumenten aus der Nazizeit und auf Narrativen die Wehrmachtsgenerälen, wie z.B. Gotthard Heinrici, in der Nachkriegszeit geschaffen haben.
siehe dazu: Johannes Hürter (Hrsg.) Notizen aus dem Vernichtungskrieg, Die Ostfront 1941/42 in den Aufzeichnungen des Generals Heinrici, WGB, Darmstadt, 2016, Seite 21

Doch die Dokumente aus der Nazizeit und unsere Sichtweise auf diese Dokumente bedürfen einer kritischen Überprüfung. Denn geben sie nicht die Verfahrensweisen und das Verwaltungshandeln der Nazis wieder? 78 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion und mehr als 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs stehen für Nachforschungen zahlreiche Archive zur Verfügung, in denen eine sehr große Zahl von Dokumenten lagert.
Über 3 Mio. Dokumente von Verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen im Gesamtarchiv des Verteidigungsministeriums der Russische Föderation (Общая База Данных – Мемориал, OBD-Memorial) im Podolsk bei Moskau zeigen heute das Ausmaß der Verbrechen der Wehrmacht. Die Dokumente sind für Interessierte auf der Internetseite von „OBD-Memorial“ www.obd-memorial.ru zu sehen und sie ermöglichen heute neue Erkenntnisse durch Informationen, die nach dem Krieg nicht zugänglich waren.
Erlaubt mir zum Schluss noch eine Bemerkung zur Geschichtsarbeit in Dortmund. In Dortmund ist viel getan worden, um die Erinnerung an die Opfer des Hitlerfaschismus und an den Widerstand gegen das verbrecherische Naziregime wachzuhalten, dennoch liegt noch Vieles im Dunkeln. Das gilt ganz besonders für die tausenden sowjetischen Kriegsgefangenen, die in Dortmund gearbeitet haben und gestorben sind. 4 Jahre lang, vom Herbst 1941 bis Anfang 1945, fuhren beinahe täglich Leichenwagen von der Westfalenhalle zum Hauptfriedhof. Sie brachten die Verstorbenen aus dem Stalag hierher und hier wurden sie anonym begraben.
Ich sage es mit den Worten unseres Oberbürgermeisters, der Karfreitag in der Bittermark Brecht mit den Worten zitierte: „ Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn keiner mehr an ihn denkt“. Nehmen wir die Aufforderung ernst und sorgen wir dafür, dass das Leben und Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen in den zahlreich Arbeitskommandos und das Sterben im Stalag in Erinnerung bleiben und die Verstorbenen nicht Unbekannte bleiben, sondern eine würdige Ruhestätte hier auf dem Internationalen Friedhof finden.

Hannelore Tölke