Viele Fragen sind noch offen

Auch mehr als 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs sind viele Fragen zum Thema Kriegsopfer noch nicht geklärt. Viele Familien in Russland und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion möchten etwas über das Schicksal ihrer Angehörigen wissen, die in Deutschland während des 2. Weltkriegs umgekommen sind. Dank neuer Kommunikationsmöglichkeiten gibt es die Möglichkeit weltweit zu kommunizieren. Über das Internet habe ich Kontakte zu meinen Landsleuten in der früheren Sowjetunion. So haben viele Familien mit mir Kontakt aufgenommen und mich um Hilfe gebeten. Sehr oft fragen sie als Erstes nach Fotos vom Grab unseres Vaters oder Großvaters. Um diesen Wunsch zu erfüllen, begann ich deshalb die Friedhöfe in Dortmund und Umgebung zu besichtigen.
Zuerst war ich schockiert über die große Zahl der Grabstätten von „Russen“. Fast jede kleine Kommune hat mindestens einen Friedhof mit Gräbern sowjetischer Bürger und Bürgerinnen. In Dortmund habe ich insgesamt 24 Friedhöfe gefunden, außerdem zwölf weitere in der Umgebung von Dortmund. Wie viele Opfer in Dortmund und Umgebung tatsächlich bestattet sind, ist bis heute nicht bekannt.

Diese Friedhöfe sind sehr unterschiedlich gestaltet. In schlimmsten Fall gibt es dort, wo sich die Gräber befinden, nur Rasenflächen, aber oft gibt es in den Friedhofsämtern noch Namenslisten. Es gibt Friedhöfe mit Gräberfeldern, auf denen Grabmale oder Grabsteine stehen. Viele Grabmale wurden gleich nach dem Krieg von Menschen aus der Sowjetunion errichtet, um an die ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangenen, die in Deutschland umgekommen sind, zu erinnern. Diese Grabmale sind manchmal in einem schlechten Zustand. Auf anderen Friedhöfen wurden Grabsteine oder Grabmale von deutschen Friedhofsverwaltungen oder engagierten Bürgern errichtet. Dies geschah meistens mit Hilfe des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. Die Namen und Daten auf diesen Grabmalen sind häufig ohne Prüfung aus kommunalen Dokumenten übernommen worden. Leider wurden bei der Erstellung dieser Dokumente die Namen sehr oft falsch geschrieben und die falsche Schreibweise findet sich bis heute auch auf den Grabmalen wieder. Für die Pflege und Erhaltung von Ruhestätten sowjetischer Bürgerinnen und Bürger, die im 2. Weltkrieg in Westdeutschland als Kriegsgefangene oder ZwangsarbeiterInnen umgekommen sind, gibt es leider kein Gesamtkonzept. So geht jede Kommune mit diesen Grabstätten nach eigenen Vorstellungen um. Selbst wenn die Grabstätten hergerichtet werden, fehlen oft Kompetenz und Sprachkenntnisse, so dass die Schreibung der Namen bei einer Instandsetzung weiterhin fehlerhaft bleibt. Eine falsche Schreibweise der Namen ist für die Familien der Verstorbenen ein großes Problem, denn dadurch wird das Auffinden eines Angehörigen sehr erschwert, wenn nicht unmöglich.

Friedhof am Duloh in Hemer

Da sich in vielen kommunalen Archiven noch Listen mit den Namen der Verstorbenen und andere Dokumente befinden, habe ich dort für die Familien Nachforschungen angestellt. Bei der Suche bin ich aber zunächst auf große Schwierigkeiten gestoßen. Mir wurden anfangs alle Suchaktionen aus Datenschutzgründen untersagt, deshalb habe ich mit Gleichgesinnten den historischen Verein Ar.kod.M e.V. (Allrussische Kriegsopferdaten Memorial e.V.) gegründet. Das hat den Zugang zu den Archiven ermöglicht. Die Ergebnisse dieser Recherchen poste ich im Internet, um sie den Familien zur Verfügung zu stellen.

Bei mir ruft es unbeschreibliche Emotionen hervor, wenn Menschen bei der Suche nach ihren Familienangehörigen Erfolg hatten. Die Kontakte zu den Familien von Opfern sind mir sehr wertvoll. Es freut mich immer sehr, wenn Familien die Gräber ihrer Angehörigen in Westdeutschland durch meine Arbeit finden und sie besuchen können.

Wäre es möglich für alle Friedhöfe Nachforschungen anzustellen, könnten mehr Menschen ihre Familienangehörigen finden. Leider stoßen weiterführende Nachforschung bisweilen auf Ablehnung. Kommunen berufen sich stattdessen auf Namenslisten, die anhand von Dokumenten aus der Nazizeit aufgestellt wurden. Diese Dokumente geben aber nur zu oft Verfahrens- und Sichtweisen der Nazis wieder. Die Dokumente aus der Nazizeit bedürfen daher selbst einer kritischen Bewertung. Sowjetischen Kriegsgefangenen blieb beispielsweise nach ihrem Tode der Eintrag in das örtliche Standesregister versagt. Sie wurden, wenn sie in einem Stalag verstorben sind, als „Unbekannte“ bestattet. Die Lagerleitung teilte den Kommunen die Namen der Verstorbenen nicht mit, obwohl ihr die Identität dieser Menschen bekannt war. Die Registrierungsdokumente der verstorbenen Kriegsgefangenen wurde aber an die Wehrmachtsauskunftstelle (WASt) weitergeleitet.

Auch 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges sind Nachforschungen möglich. Heute stehen für Nachforschungen zahlreiche Archive zur Verfügung, in denen eine sehr große Zahl Dokumente lagern, die Aufschluss über die Identität der Verstorbenen geben können. So zeigen über 3 Mio. Dokumente von verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen im Gesamtarchiv des Verteidigungsministeriums der Russische Föderation (Общая База Данных – Мемориал OBD-Memorial) in Podolsk bei Moskau heute das Ausmaß der Verbrechen. Zu den Beständen gehören Dokumente aus der Kriegszeit und der Nachkriegszeit, u.a. Todeslisten, Arbeitshefte aus Betrieben, Arbeitskarten, Transportlisten und Überführungskarten sowie Namens- und Opferlisten, die im Auftrag der Alliierten nach Kriegsende angefertigt wurden. Alle diese Dokumente sind für Interessierte offen auf der Internetseite von „OBD-Memorial“ www.obd-memorial.ru zu sehen und sie ermöglichen heute neue Erkenntnisse durch Informationen, die nach dem Krieg nicht zugänglich waren. Mithilfe von Dokumenten der Roten Armee kann die falsche Schreibweise des Namens in vielen Fällen korrigiert werden. Der Zugang zu diesen Dokumenten macht es möglich fast vollständige Namenslisten von Kriegsopfern zu erstellen.
Die Resultate dieser Nachforschungen ergeben höhere und viel glaubwürdigere Zahlen von Opfern, die in einem verbrecherischen Krieg gestorben sind. Die Ergebnisse der Recherchen ermöglichen uns die Grabstätten, die bisher nur einfache, namenlose Rasenflächen sind, zu würdigen Ruhestätten für die Opfer umzugestalten.

Dmitriy Kostovarow